In den letzten 20 Jahren war die Landwirtschaft in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion durch wirtschaftspolitische Reformen und Restrukturierungsprozesse geprägt. Nachdem in der Sowjetunion eine extreme Ausweitung landwirtschaftlicher Nutzfläche stattfand, fielen allein in Russland nach 1990 aufgrund des staatlichen Rückzugs über 25 Millionen ha Land brach. Nach wie vor wird die osteuropäische Landwirtschaft von Großunternehmen und seit einigen Jahren zunehmend von Agrarkonzernen geprägt. In Russland bewirtschaften beispielsweise rund 30 dieser Megafarmen zusammen etwa 6,7 Millionen ha. In der Ukraine bewirtschaften die 15 größten Agrarkonzerne ca. 3 Millionen ha.
Das diesjährige IAMO Forum vom 20. bis 22. Juni 2012 in Halle (Saale) stand unter dem Titel „Land Use in Transition: Potentials and Solutions between Abandonment and Land Grabbing“. An den drei Konferenztagen diskutierten renommierte Wissenschaftler und Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft über Entwicklungen in der Landnutzung sowie die nachhaltige Sicherstellung der Nahrungsmittelproduktion in den Transformationsökonomien Osteuropas, der ehemaligen Sowjetunion und Ostasiens. „Mit fast 180 Teilnehmern an vier Plenarsitzungen und 20 Parallelsitzungen erfuhr das mittlerweile 10. IAMO Forum eine extreme Resonanz. Es wurden erstaunliche Forschungsergebnisse und zukunftsweisende Perspektiven präsentiert, die gezeigt haben, dass die Thematik „Land Grabbing“ auch in den nächsten Jahren verstärkt im Fokus von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft stehen wird“, so Alfons Balmann, Direktor des Leibniz-Instituts für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (IAMO). Balmann fügte hinzu: „Die zunehmende Wissensintensität moderner Landwirtschaft mit sowohl einem enormen Finanzierungbedarf und einhergehend hohen Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte nehmen, insbesondere in Russland, der Ukraine und Kasachstan, heute wie auch in Zukunft eine zentrale Stellung in der landwirtschaftlichen Entwicklung ein. Die Entstehung von Agroholdings spiegelt bisherige Defizite hinsichtlich dieser Anforderungen wider. Ob dieser Trend nachhaltig erfolgreich ist, hängt davon ab inwieweit er in Übereinstimmung mit unternehmerischer Effizienz, den Anforderungen der Wertschöpfungskette, den lokalen Bedingungen und Auswirkungen für die Umwelt erfolgt.“
Forschungsbedarf in der Landwirtschaft
Der erste Konferenztag wurde nach einer thematischen Einführung von Alfons Balmann mit der Plenarsitzung zum Thema "Land Use Transitions" eröffnet. Peter Verburg, Leiter der Abteilung „Räumliche Analyse und Entscheidungsunterstützung“ am interdisziplinären Forschungsinstitut für Umweltstudien der Universität Amsterdam, wies darauf hin, dass nicht nur die drastischen sondern auch die mehr subtilen und allmählichen Landnutzungsänderungen einen entscheidenden Einfluss auf die Nahrungsmittelproduktion und die globalen Umweltveränderungen nehmen. Verburg kritisierte, dass man sich in der Forschung und Politik fast ausschließlich auf Veränderungen im großen Maßstab konzentriert und generalisierte Schlussfolgerungen auf der Grundlage von globalen Analysen getroffen werden, die nicht bzw. kaum im lokalen Kontext stehen. Es sei wichtig, dass Entscheidungen und Politikmaßnahmen in Abhängigkeit von lokalen Landnutzern, natürlichen Standortbedingungen und vom sozioökonomischen Umfeld getroffen werden. Nach Verburgs Ansicht benötigt die landwirtschaftliche Entwicklung eine weitergreifende Zusammenarbeit verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen sowie eine Umstrukturierung der disziplinären Organisation von Wissenschaft und Förderinitiativen.
Helmut Haberl vom Institut für Soziale Ökologie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt erörterte die wesentlichen Aspekte, die bei einer nachhaltigen Bioenergienutzung zu berücksichtigen sind. Er machte darauf aufmerksam, dass aufgrund des Klimaschutzes und der endlichen Verfügbarkeit fossiler Energieressourcen, insbesondere von Erdöl, der Übergang zu einem nachhaltigeren und klimafreundlichen Energiesystem unvermeidbar ist. Ein deutlicher Ausbau der Biomassenutzung zur Energiegewinnung, als Ersatz von Fossilenergie, beinhaltet zwar erhebliche Potenziale, hat jedoch auch eine deutliche Ausweitung der Flächeninanspruchnahme und demnach großflächige Veränderungen der Kulturlandschaften zur Folge. Nach Ansicht von Haberl kann die Biomassenutzung zwar einen Beitrag zum Umstieg vom derzeit dominanten Fossilenergiesystem auf ein nachhaltigeres Energiesystem leisten, jedoch sind die Potenziale viel kleiner und teilweise problematischer für die Umwelt als bisher angenommen. Um durch die Biomasse die höchstmögliche Effizienz in Form kaskadischer Nutzung zu erzielen und negativen Umweltwirkungen vorzubeugen, sind räumliche explizite Analysen sowie ein besseres Verständnis zur wechselseitigen Beeinflussung von Nahrungsmittel- und Bioenergieproduktion erforderlich. Die EU-Förderpolitik im Bereich der Bioenergie sollte laut Haberl so gestaltet werden, dass durch die Bioenergienutzung tatsächlich Treibhausgasmengen eingespart werden.
Politische Klarheit für Stabilität in der Landnutzung
Über die Prozesse der Landnutzungsänderungen wurde am zweiten Tag des IAMO Forum diskutiert. Johann Swinnen, Direktor des LICOS und Professor für Entwicklungsökonomie an der Katholischen Universität Leuven, erläuterte die Unterschiede und Probleme in der Europäischen Landnutzung, die sich durch Restrukturierung der Landwirtschaft in den letzten Jahren ergeben haben. Vor allem in den neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union sind große Unterschiede in den Bodenreformen und im Wert von Boden zu beobachten. Nach dem Beitritt der neuen EU-Länder wurde der Erwerb von Land in diesen Ländern für ausländische Investoren stark eingeschränkt. Auch wenn den anderen EU-Ländern, gemäß dem EU-Binnenmarktgesetz, der Landerwerb hätte erlaubt werden müssen, gab es Übergangsregelungen, die jedoch in nächster Zeit, ausgenommen Polen, auslaufen. Für die Nutzung und das Pachten von Land gibt es für ausländische Investoren wenige Einschränkungen. Der Anteil von gepachtetem Land ist sehr unterschiedlich und hängt mit den bestehenden Betriebsstrukturen eines Landes zusammen. In den Länder Slowakei und Tschechischen Republik beträgt der Anteil jeweils über 90 Prozent und in Polen etwa 30 Prozent. Nach Swinnen beeinflussen Beschränkungen im Austausch von Land die Entwicklungen eines Landes negativ. Das Bodenrecht beeinflusst sowohl Effizienz als auch Gerechtigkeit. Ein Anstieg an ausländischen Direktinvestitionen hat für die Länder durch den Zufluss von Kapital und Technologie zumeist positive Auswirkungen. Swinnen empfiehlt daher eine vollständige Liberalisierung der Bodenmärkte in den neuen EU-Mitgliedsländern.
Anschließend stellte Grigory Ioffe, Professor der Geographie an der Radford University, die Gründe für das Brachfallen von Land im russischen Agrarsektor dar. Der russische Staat hat viele Jahrzehnte die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzflächen forciert. So wurde die Landnutzung in Russland von 52 Millionen ha im Jahr 1922 auf 126 Millionen ha im Jahr 1976 ausgeweitet. Das traf auch in Gebieten zu, die ungünstige Standortbedingungen für die Landwirtschaft aufweisen. Nach 1990 brachen durch den Rückzug des Staates die landwirtschaftliche Produktion und der Viehbestand in Russland stark ein. Seit 2000 sind in Russland mindestens 20 Millionen ha landwirtschaftliche Flächen brach gefallen. Selbst im Jahre 2009 lag die landwirtschaftliche Produktion Russlands immer noch unter dem Stand von 1990. Als entscheidende Determinanten für das Brachfallen und den Produktionsrückgang gelten die teilweise sehr geringe Bevölkerungsdichte, die Bodenqualität und die Erreichbarkeit von städtischen Zentren. Der ländliche Raum in Russland ist in Gebiete mit funktionierenden landwirtschaftlichen Betrieben und Räumen mit so genannten „sterbenden Dörfern“ fragmentiert. Ioffe sagte, dass es im Norden von Russland, außerhalb der Umgebung großer Städte, zum großflächigen Erliegen der Landwirtschaft kommt. In Russlands Süden wird aufgrund günstiger Bedingungen die Landschaft fortbestehen. Subventionen zur Erhaltung und Erweiterung von landwirtschaftlichen Nutzflächen sind nach Ioffe erstrebenswert.
Investitionen mit Geschick und Verantwortung
Am letzten Konferenztag gab Max Spoor, Professor für Entwicklungsforschung am Internationalen Institut für Sozialwissenschaften in Den Haag, eine kritische Einschätzung zur Frage, ob Agroholdings in Russland die globale Nahrungsmittelkrise lösen können. Er bestätigte, dass im Hinblick auf die Anzahl bestehender Agroholdings und Anteil an landwirtschaftlicher Nutzfläche Russland die Spitze auf dem Weltmarkt einnimmt. In den letzten Jahren gibt es zwar eine aufstrebende Tendenz von Familienbetrieben, jedoch werden rund 80 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen von Großbetrieben bewirtschaftet. Trotz dessen ist die Produktivität im russischen Getreidesektor, insbesondere im Vergleich zu den Erträgen in den USA und in Kanada, sehr niedrig. Familienbetriebe erzielen in einigen Bereichen der Landwirtschaft, beispielsweise beim Maisanbau, die gleichen bzw. sogar höhere Erträge als Großbetriebe. Agroholdings in Russland haben hohe Überwachungskosten, sind nicht sehr effizient und weisen oft ein "postsowjetisches" Management auf. Durch Rekultivierung von verfügbarem, fruchtbarem Land sowie Investitionen in landwirtschaftliche Großbetriebe wird zukünftig eine erhöhte Weizenproduktion erhofft. Daraus ergibt sich die Vision, dass die Kornkammern in Russland, der Ukraine und Kasachstan signifikant zur Steigerung der globalen Nahrungsmittelproduktion beitragen können. Aufgrund der geringen Effizienz russischer Großbetriebe im Agrarsektor sowie regelmäßiger Missernten durch Wasserknappheit und zunehmenden Klimaveränderungen hält es Spoor jedoch kaum für möglich, dass es einen Automatismus gibt, wonach Russland durch Agroholdings zur Lösung der globalen Nahrungsmittelprobleme beiträgt.
Der Weltbank-Ökonom Klaus Deininger wies in seinen Ausführungen darauf hin, dass es viele Beispiele für einen so genannten „Ressourcenfluch“ gibt, der sehr negative Folgen für ein Land und seine Bevölkerung mit sich bringt. Diese Auswirkungen sind zumeist auf das Fehlverhalten der betreffenden Markteilnehmer zurückzuführen. Um durch ausländische Investitionen positive Effekte hinsichtlich der Beschäftigung, Armutsbekämpfung und Ernährungssicherung im Land zu erzielen, sind verantwortungsvolle und geeignete Politiken erforderlich. Entscheidende Aspekte im Zusammenhang mit „Land Grabbing“ ist der verantwortungsvolle Umgang mit den Bedürfnissen der Bevölkerung durch die Regierungen und Unternehmen. Bestehende Landrechte müssen anerkannt und geregelt werden, die staatliche Landbewirtschaftung verbessert und Informationen für die Bevölkerung transparenter gestaltet werden. Nach Deininger sollte insbesondere der wettbewerbsfähige mittelständische Agrarsektor gefördert werden. Das IAMO kann mit seinen Forschungsschwerpunkten und Kompetenzen einen erheblichen Beitrag für eine positive Entwicklung leisten.
Ein weiterer Höhepunkt der Konferenz bildete die abschließende Podiumsdiskussion unter dem Titel „Large-scale Farmland Investments and Land Grabbing“. Max Spoor und Klaus Deininger sowie der Präsident des Ukrainian Agribusiness Clubs Alex Lissitsa, Christian Ebmeyer vom russischen Agrarunternehmen Ekoniva und Maren Kneller, Referentin für Ländliche Entwicklung und Welternährung beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, diskutierten über die Herausforderungen und den richtigen Umgang mit großflächigen Landkäufen und -pachten durch ausländische Investoren. Die kontroversen Ansichten der Teilnehmer stellten sehr unterschiedliche Strategien heraus, inwieweit eher landwirtschaftliche Familienbetrieben oder großen Agrarkonzernen die vielversprechendste Lösung bieten. Einigkeit bestand jedoch darin, dass das Thema „Land Grabbing“ auch zukünftig ein breites Forschungsfeld liefert, das darauf ausgerichtet sein sollte, Chancen und Risiken in der Landwirtschaft besser abzuschätzen sowie den verantwortungsvolle Umgang mit Mensch, Umwelt und Klima zu gewährleiten.
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| PM 09/2012
Land Grabbing – Chance oder Fluch für die Osteuropäische Landwirtschaft
Über das IAMO
Das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) widmet sich der Analyse von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungsprozessen in der Agrar- und Ernährungswirtschaft sowie in den ländlichen Räumen. Sein Untersuchungsgebiet erstreckt sich von der sich erweiternden EU über die Transformationsregionen Mittel-, Ost- und Südosteuropas bis nach Zentral- und Ostasien. Das IAMO leistet dabei einen Beitrag zum besseren Verständnis des institutionellen, strukturellen und technologischen Wandels. Darüber hinaus untersucht es die daraus resultierenden Auswirkungen auf den Agrar- und Ernährungssektor sowie die Lebensumstände der ländlichen Bevölkerung. Für deren Bewältigung werden Strategien und Optionen für Unternehmen, Agrarmärkte und Politik abgeleitet und analysiert. Seit seiner Gründung im Jahr 1994 gehört das IAMO als außeruniversitäre Forschungseinrichtung der Leibniz-Gemeinschaft an.
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